eine persönliche Streitschrift von Frieder W. Bergner
Daß ich Pazifist wurde („Lumpenpazifist“ wie jüngst ein selbstverliebter, westdeutscher
Internetkasper für eine üppige SPIEGEL-Gage geiferte), verdanke ich drei längst
vergangenen Begebenheiten.
Die erste war eine ganz kleine Tragödie, die ich als ganz kleiner Mensch von 5 Jahren
erlebte.
Später dann, in meiner Oberschulzeit, lernte ich einen außergewöhnlichen Pfarrer kennen,
von dem ich viel übers Leben lernte.
Das dritte Erlebnis waren schreckliche 18 Monate Militärdienst, die mir gleich nach dem
Abitur aufgezwungen wurden.
Die kleine Tragödie erzählt sich leicht: 1959 fuhr meine Familie aus Sachsen auf Besuch zu Tante und Onkel in den Westen. Der Anlaß wird wohl ein Familienfest gewesen sein, denn dort in Fulda, bei Onkel, Tante, Cousin und Cousinen, gab es auch noch anderen Besuch, eine flämische Familie aus Izegem.
Mein Fuldaer Onkel Hans hatte Gabriel, den flämischen Familienvater kennengelernt, als er in Kriegsgefangenschaft von ihm bewacht wurde. Gabriel war Soldat in der belgischen Armee gewesen, und Onkel Hans war als junger Wehrmachtshauptmann mit schlimmen Verwundungen, von seinen Kriegserlebnissen vollkommen desillusioniert und schwer traumatisiert (würde man heute sagen) in die Krankenstation eines flandrischen Gefangenenlagers geraten.
Die zwei ehemaligen Kriegsgegner waren sich wohl sympathisch. Sie führten dort im Lager
nächtelange Gespräche und es erwuchs zwischen ihnen eine Freundschaft, die bis ins
hohe Alter hielt.
Im Nachhinein für mich eine der bewegenden, menschlichen Geschichten, wegen derer ich
mich traue, Hoffnung in die Utopie Europa zu setzen.
Nun feierten wir in Fulda meinen 5. Geburtstag, und der fremde „Onkel“ aus Belgien
schenkte mir einen Zündblättchenrevolver. Für junge LeserInnen erkläre ich: Das war ein
Cowboyrevolver, mit dem man sich wie der gute Sheriff aus dem Ami-Western fühlen und
mittels einlegter Schießpulverblättchen richtig laut knallen konnte.
Leider war der Stolz des Ostkindes auf solch ein tolles Westspielzeug nur von kurzer
Dauer. Onkel Hans nahm mir den Colt weg und verkündete kategorisch, daß „Waffen bei
ihm nicht mehr ins Haus kämen“.
Ich begriff gar nichts, weinte bittere Tränen und behielt diesen Spruch im Gedächtnis.
Etwa zehn Jahre später dann brachte mich ein thüringischer Pfarrer zum Nachdenken
darüber .
Wer heute an Walter Schilling erinnert, nennt ihn gern eine Ikone des Widerstandes gegen
die SED-Diktatur. Jahrelang war er als Kreisjugendpfarrer wegen seiner regimekritischen
Botschaften der Obrigkeit ein Dorn im Auge. 1974 dann warf ihn ein Thüringer
Landesbischof aus dem Amt, weil er in seinem Jugendheim einen Wehrdienstverweigerer
vor Stasi und Volkspolizei versteckt hatte.
Vorher aber saß ich, der Oberschüler, nächtelang in Schillings Rüstzeitheim mit anderen
Jugendlichen bei spannenden Diskussionen über die Welt und Gott (meist in dieser
Reihenfolge) zusammen. Außerdem wurden Tonbänder (!) mit Musik von Jimi Hendrix,
The Cream und Captain Beefheart gehört und danach, in den Schlafsälen, nach
Herzenslust geknutscht. All das durften wir dort, Walter Schillings Heim war ein geistig
exterritorialer Ort mitten in der DDR.
Und Walter war ein begnadeter Pastor, denn in unseren Diskussionen landeten wir
tatsächlich fast immer irgendwann – für uns Teenager ganz unmerklich – bei dem, was in
der Kirche der Erwachsenen die Botschaft Jesu Christi genannt wurde.
Also bei Sascha Lobos „Lumpenpazifismus“.
Kein Wunder, daß ich in diesen Rüstzeitnächten zum Rüstungsgegner wurde und den
Vorsatz faßte, den Wehrdienst mit der Waffe zu verweigern. Meine Eltern jedoch, aus
verständlicher Sorge um den weiteren Bildungsweg ihres Jüngsten, überzeugten mich
schließlich, diese anderthalb Jahre Pflichtwehrdienst einfach „über mich ergehen zu
lassen“, um danach ungehindert studieren zu dürfen.
Aber, ach, sie ahnten nicht ansatzweise, wozu sie mich überedet hatten.
Ich geriet, bisher ein wohlbehüteter Junge von gerade mal 18 Jahren, in das Inferno von
Gewalt, Nötigung, Mißbrauch und ekelhafter Bevormundung, welches in der DDR
„Ehrendienst mit der Waffe“ genannt wurde.
Vom ersten Tag in der Kaserne an fühlte ich mich wie einer, der urplötzlich in eine wild
gurgelnde, reißende Strömung geworfen wird und nichts tun kann, als verzweifelt und
panisch zu versuchen, nicht unterzugehen.
Es gab keine Worte, die unseren Tagesablauf bestimmten, sondern nur noch Befehle, und
diese wurden nicht gesprochen, sondern gebrüllt. Ein ununterbrochenes, infernalisches
Unteroffiziersgebrüll beherrschte uns von 6 Uhr morgens bis zum Nachtruhebefehl 22 Uhr
am Abend. Erfüllt von diesem Gebrüll waren die nach Bohnerwachs und Männerschweiß
stinkenden Stuben, in denen wir zu acht schliefen, die langen, widerhallenden
Kasernenflure und der riesige Exerzierplatz vor unserem Fenster, und dieses Gebrüll hatte
einen ganz bestimmten Zweck. Es sollte uns Neue einschüchtern und uns von vornherein
daran gewöhnen, daß wir ab sofort keine Menschen mehr sind, sondern Soldaten.
Jeden Augenblick in diesen Wochen fühlte ich auf meiner Haut die beißende Oberfläche
dieses harten Stoffes, aus dem der Krieg gemacht wird.
Aber es kam noch schlimmer: Ein privater Brief an meine damalige Freundin, in dem ich
meinen ganzen Ekel vor dem Alltag als „Wehrpflichtiger im ersten Diensthalbjahr“
wortreich ausgekotzt hatte, geriet durch dummes Pech auf den Schreibtisch des
„Verbindungsoffiziers unserer NVA-Einheit zu den Organen der Staatssicherheit“.
Und so verdankte ich es nur einem wirklich glücklichen Zufall, daß ich daraufhin nicht in
der berüchtigten Militärstrafanstalt Schwedt, sondern „nur“ im Kasernenknast landete.
Später erfuhr ich, daß die Wache in meiner ersten Nacht in der Arrestzelle angewiesen
war, alle 30 Minuten bei mir „Sichtkontrollen“ durchzuführen. Und wirklich hatte ich in
diesen angstvollen Stunden ungewisser Verlassenheit darüber nachgedacht, mich vor den
drohenden 12 Monaten in Schwedt durch Suizid zu „retten“.
Ich bekam also in diesen für mich beinahe tödlichen 18 Monaten eine ungefähre
Vorstellung davon, wie Krieg sich anfühlen mag.
Und ich lernte, daß das Militär eine Institution ist, deren Handeln mit Vehemenz und
Perfektion darauf abzielt, Menschen zu erniedrigen, zu mißbrauchen und auf jede
erdenkliche Weise zu demütigen, um aus ihnen Monster zu machen. Innerlich zerbrochene
Individuen, deren Bestimmung es ist, Mitmenschen zu ermorden oder, falls es auch ohne
Morden geht, ihnen die Heimat, ihr Zuhause, ihr gesamtes Leben zu zerstören.
All dies habe ich bereits im jugendlichen Alter von 19 Jahren unfreiwillig, aber sehr
gründlich erfahren!
Und nun, mehr als ein halbes Leben später, erlebe ich, daß die Regierung meines Heimatlandes im Begriff ist, sich von einer scheinbar irre gewordenen Journaille, einer gut getarnten Lobby ewiger Kriegstreiber und von den immer neuen, medial perfekt in Szene
gesetzten Waffenforderungen einer Regierung von selbst ernannten „Dienern des Volkes“
an den Rand eines finalen, atomaren Krieges treiben zu lassen!
Versuche einer, diesen Wahnwitz zu deuten!
Auch ohne Helmut Kohls Einheit in all ihren Erscheinungsformen gut zu finden, hatte ich in den vergangenen drei Jahrzehnten zu diesem, meinem vereinigten Deutschland ein grundlegendes Vertrauen. Es war für mich ein Deutschland, welches nicht vergaß, daß es einst seine Regierung, seine Armee und sein allzu willfähriges Volk war, welches das bisher schlimmste Morden der Menschheitsgeschichte zu verantworten hatte!
Deshalb – oh gute alte Zeit – gab es in meinem Land ein klares, wohl begründetes Gebot,
in all die vielen Kriegsgebiete dieser Welt keine zerstörerischen Waffen zu liefern.
Ja, wir haben unsere Lektion der Geschichte gelernt, sagte dieses Gesetz.
Aber nun? Ich sehe, wie unsere PolitikerInnen in fotogen gestylten Kampfanzügen und mit Soldatenhelmen auf schick frisierten Köpfen dazu aufrufen, den bösartigen, grausamen Krieg dieses modernen Zaren gegen die „Diener des Volkes und Helden der Demokratie und der Menschenrechte“ mit immer mehr und mehr Waffen zu füttern. Ganz so, als ob diese Diener des Volkes tatsächlich Helden der Menschenrechte und das Ganze ein Computerspiel „Gut gegen Böse“ oder die 37. Fassung von „Terminator“ sei.
Es sind Menschen, die da auf beiden Seiten sterben, und es sind Heimatstädte, welche in
Schutt und Asche versinken, möchte man ihnen zurufen.
Und „Freiheit oder Tod“, der Kriegsruf der ukrainischen Regierung ist zwar uralt, aber
deshalb nicht weniger unsinnig:
Wenn alle tot sind, wer ist dann frei? Doch wohl nur die Überlebenden, also genau jene, welche am erfolgreichsten gemordet haben!
Nach einer langen Periode konservativer Regiertheit habe ich mich ehrlich über diese
jüngere PolitikerInnengeneration gefreut. Ich glaubte, daß wenigstens einige Probleme der
Menschheit bei diesen gut gebildeten, ausgeschlafenen und anscheinend denkbereiten,
coolen Typen in recht guten Händen seien.
Aber nun verwandeln sich gerade diese coolen Typen zusehends in eine Art geklonter
Jungkriegstreiber.
Ja, ja! Putin, der Wahnsinnige, Putin, der neue Hitler läßt uns doch keine Wahl, gellt es
aus allen Ecken des Reichstages! Und ein Kanzler, der einfach nur versucht, in Ruhe
nachzudenken, um in dieser brandgefährlichen Lage keine ganz schlimmen Fehler zu
machen, wird von diesen Kaiser-Wilhelm-Followern zur blutigen Hatz getragen.
Aber damit nicht genug. Die gesamte deutsche Medienzunft scheint vor Begeisterung über
die Schreckensbilder von Tod und Verderben geradezu aus dem Häuschen:
Bad news are good news – der Tod der Anderen ist ein nicht zu überbietender Bestseller,
dagegen gehören all die Meldungen über Klimawandel, Spaltung der Gesellschaft,
Gendergerechtigkeit und soziale Schieflage ins Schlafwagenabteil!
Redet nicht über Diplomatie oder Waffenstillstand, sondern laßt uns den Anschluß an diesen herrlichen Schlachtenboom nicht verlieren! Und all jene, welche vor Jahren mit Geduld und Diplomatie versucht hatten, die Regierungen einer gespaltenen Ukraine von der Bombardierung ihrer eigenen Landsleute abzubringen, werden plötzlich zu willfährigen Gefolgsleuten des Putin-Verbrechers gemacht. Geht es noch?
Und kein Mensch kommt auf die Idee, die exorbitante Summe von 100 Milliarden Euro als Preis für die Mitgliedschaft in der hochgerüsteten US-geführten Weltgendarmerie zu
verweigern. Die Liste des blutigen Scheiterns dieser terroristischen Organisation ist ebenso
lang wie schrecklich. Aus dem Stegreif fallen mir nur die übelsten „Higlights“ ein: Iran,
Vietnam, Cuba, Chile, Nicaragua, wieder Iran, Irak, Afghanistan...
Putins neues Zarenreich, wie agressiv auch immer, ist dagegen eine erbärmliche
Stümpertruppe.
Soweit so schlecht.
Ich versuche weiter zu verstehen: Wie haben es die nette Annalena, der kluge Robert, der
bodenständige Anton, die smarte Marie-Agnes und all die anderen braven Kinder des
erfolgreichsten Wirtschaftswunderlandes der Welt geschafft, so schnell von
Hoffnungsträgern zu ferngesteuerten Twitterschlachtenhelden und Instagramterminatoren
zu mutieren?
Ich vermute es ist ganz einfach Unkenntnis.
Sie haben – zu ihrem Glück, möchte man meinen – nie gelernt, wie es ist, bis zum Hals in
der Scheiße zu stecken! Sie haben nie erfahren, wie es sich anfühlt, BürgerIn eines armen,
von Wirtschaftssanktionen eines kalten Krieges geknebelten Landes zu sein.
Oder gar schiere Angst davor haben zu müssen, gequält, erniedrigt, mißhandelt und
schließlich im Namen irgendeiner Ideologie, Nation, oder was-auch-immer einfach in einen
Krieg gezwungen zu werden.
Mein Onkel Hans hatte seine Lektion gelernt und sein Stück teuer bezahlter
Lebensklugheit an mich weitergegeben:
In mein Haus kommt keine Waffe mehr!
Und meine Eltern, als sie erfuhren, daß ihr Jüngster wegen eines privaten Jammerbriefes
vor den Militärstaatsanwalt der DDR gezerrt wurde, haben es damals bitter bereut, daß sie
mich trotz eigener christlicher Gesinnung zum „Ehrendienst mit der Waffe“ überredet
hatten.
Und was kann man nun den im Minutentakt Kriegsgedöns verbreitenden RedakteurInnen
in ihren gut klimatisierten Redaktionsstuben zurufen?
Was den JungpolitikerInnen, deren kleines aber feines Westleben stets von Allianz und
Alnatura begleitet, und von einer besorgten Mama und einem finanziell bestens
abgesicherten Papa behütet wurde?
Wahrlich, ich sage Euch:
Noch ist es der Tod der Anderen, über den Ihr schwadroniert und regiert.
Aber wenn er dann plötzlich ZU UNS kommt, dann ist es auch unser Tod, und er wird
dreckig, voll Feuer, Blut, Eiter und unbeschreiblichen Schmerzen sein.
Und danach? Dann sagt, schreibt und regiert Ihr gar nix mehr. Dann seid Ihr einfach tot.
Frieder W. Bergner im April 2022